Adriana Szymanska Frauenportraits

Diesen Text schrieb ich 2022 für das Projekt Frauenportraits (frauenportraits.com). Da ich oft gefragt werde, wie das eigentlich mit meiner Diagnose war, habe ich mich entschlossen ihn hier zu veröffentlichen. Auch wenn seit dem wieder so viel Neues passiert ist, dass ich ihn am Liebsten umschreiben würde. 

Mein Weg zur ADHS Diagnose

Anfang des Jahres 2022 veränderte ein Zettel mein ganzes Leben: Ich hielt endlich meine ADHS Diagnose in der Hand. Irgendwie wusste ich schon mein ganzes Leben lang, dass ich „anders“ bin, aber ich hatte nie eine Erklärung dafür. Und ich wäre auch nie im Leben darauf gekommen, dass es ausgerechnet ADHS ist, was jetzt für mich so Vieles erklärt. Denn ich hatte ganz falsche Vorstellungen von der vermeintlichen „Kinderkrankheit“. Zum Zeitpunkt meiner Diagnose war ich bereits 37 Jahre alt und damit zähle ich zu den spätdiagnostizierten Frauen. ADHS Symptome können sich sowohl im Kindes- als auch Erwachsenenalter unterschiedlich zeigen. Und so entsprechen nicht alle dem Klischee vom „Zappelphilipp“. Durch Vorurteile und Schubladendenken wurden (und werden) Diagnosen oft falsch oder gar nicht gestellt. „Unauffällige“ Frauen wie ich fallen nicht selten durchs Raster. Klar war ich manchmal verpeilt oder chaotisch, aber ich bekam dennoch alles mehr oder weniger auf die Reihe. Wenn man nicht weiß, wie sich „normal“ anfühlt, kommt man natürlich auch nicht unbedingt auf die Idee, neurodivergent zu sein.

 

Heute weiß ich, wie ich meinen Alltag mit ADHS besser gestalten kann und habe mich – so widersprüchlich das auch klingen mag, sogar als Ordnungscoach selbstständig gemacht. Doch bis ich zu meiner Diagnose kam, war es ein langer Weg. Alles fing damit an, dass ich mir ernsthaft Sorgen um mein Gedächtnis gemacht habe. Ich hatte das Gefühl, dass ich mir nichts merken kann. Ständig habe ich Sachen vergessen und versäumte Termine. Ich stellte Kartoffeln auf den Herd und lies sie anbrennen. Ich befürchtete, dass irgendwas mit mir nicht stimmt und äußerte meine Probleme gegenüber meiner Hausärztin. Diese schickte mich 2018 zur ADHS Ambulanz am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Während des Termins musste ich Fragebögen ausfüllen, ein persönliches Gespräch führen und Reaktionstests machen. Ich hatte mir bereits Einiges angelesen und konnte zahlreiche Parallelen zwischen meinen eigenen Lebenserfahrungen und denen von Menschen mit ADHS ziehen. Daher war ich mir sicher, ebenfalls alle Bedingungen für eine Diagnose zu erfüllen. Ich hatte gehofft, dadurch endlich eine Begründung für so viele Dinge zu finden, die in meinem Leben schwierig zu meistern gewesen waren. Stattdessen gab es aber ein anderes Ergebnis: Ich befand mich in einer „Depression mit Erschöpfungskomponente“ und unter diesen Umständen konnten „keine sicheren Anzeichen einer ADHS“ gefunden werden. Ich habe damals nicht realisiert, dass ich mich bereits in einer frühen Phase eines Burnouts befand. Also machte ich erstmal weiter wie gehabt und dachte, ich muss mich einfach „nur“ mehr anstrengen.

 

Auszeit durch Burnout

 

Zu dem Zeitpunkt war ich in vielen verschiedenen Bereichen gleichzeitig tätig. Ich war unter anderem bei Foodsharing aktiv, habe in diversen Projekten mitgewirkt, Tauschpartys organisiert und im Glückslokal (eine Sharing-Community in Kiel) gearbeitet, das ich selbst mitgegründet habe. Doch irgendwann, von einem Tag auf den anderen, ging das nicht mehr. An dem Tag, als sich der Burnout richtig bemerkbar gemacht hat, sollte ich eigentlich auf eine Veranstaltung gehen. Doch es fühlte sich so an, als würde mich eine unsichtbare Barriere daran hindern, meine Wohnung zu verlassen. Ich habe es selbst nicht verstanden und mich gefragt, warum ich nicht mehr »funktioniere«. Ich dachte, ich bräuchte nur mal einen Tag frei. Dann vielleicht eine Woche. Irgendwann musste ich einsehen, dass es damit aber nicht getan ist. Ich brauchte wirklich eine Pause von Allem.

 

Schweren Herzens musste ich alle meine Zuständigkeiten abgeben und somit auch mit meiner Arbeit im Glückslokal aufhören. Das Schlimmste für mich war, meinen Zustand und die damit verbundenen Entscheidungen niemandem erklären zu können. Für meine Situation hatte ich einfach keine Worte – zu dem Zeitpunkt wäre es mir auch ferner nie in den Sinn gekommen, dass ich an einem Burnout leiden könnte. Dieser Zustand der völligen Erschöpfung war für mich etwas, dass ich nur aus Medien kannte, die über ausgebrannte Manager*innen berichtet haben. Die Diagnose Burnout bekam ich allerdings erst viel später, als ich eine Psychotherapie anfing.

 

Zunächst habe ich mich eigenständig darüber informiert, was mit mir los war. In einer Beratungsstelle für Frauen, äußerte eine Coachende die Vermutung, dass ich hochsensibel sein könnte. Tatsächlich fand ich mich auch in der Hochsensibilität wieder. Abgesehen davon, dass ich eine mögliche Erklärung gefunden habe, half es mir sehr zu wissen, dass ich damit nicht alleine war. Es gab also offensichtlich auch noch andere Personen, die mit den gleichen Herausforderungen zu kämpfen hatten wie ich. Früher hatte ich das Gefühl, ich bin die Einzige, die unter Lärm- und Reizüberflutung leidet. Lange Zeit hat es mir dann „gereicht“ hochsensibel zu sein. Doch obwohl ich seit meinem Burnout vieles in meinem Leben geändert habe, achtsamer war und mehr auf meine Bedürfnisse achtete, konnte ich nicht verhindern, dass ich mich wieder in einen Erschöpfungszustand manövrierte. Da ich aber in der Zwischenzeit noch mehr über ADHS gelesen hatte, wagte ich diesmal einen zweiten Anlauf für die Diagnose. Ohne die Auswirkungen der Depression, fielen die Tests ganz anders aus: Ich war in den Aufgaben viel schneller, aber die Fehlerquote war deutlich höher. Vor allem gab es sehr deutliche Aufmerksamkeitsdefizite und ich erfüllte die Kriterien für die Diagnose ADS (heute ist dennoch ADHS üblich, denn das H steht nach neuester Definition sowohl für Hypo als auch Hyper).

 

Für mich stellte das tatsächlich eine große Erleichterung dar. Endlich zu verstehen, warum vieles für mich so schwierig war und warum ich wirklich anders „ticke“, half mir, auch retrospektiv ein bisschen Frieden mit meiner Biographie zu schließen. Ich begann mich zu informieren und vieles aufzuarbeiten.

 

Ein weiteres mögliches Puzzlestück:

 

Ich möchte mich eigentlich nicht auf ADHS reduzieren, aber viele meiner Probleme, die ich mein ganzes Leben lang hatte, konnten dadurch tatsächlich erklärt werden. Beispielsweise habe ich im Zuge meiner Recherchen erfahren, dass Menschen, die von ADHS betroffen sind oder sich als hochsensibel identifizieren, relativ anfällig für Burnouts sind. Das liegt unter anderem daran, dass einige sehr viel Energie dafür aufbringen müssen, in einer Welt zu „funktionieren“, die nicht für neurodivergente Menschen gemacht ist. Meine Reise hört da allerdings nicht auf, denn momentan befinde ich mich in der Autismus Diagnostik und vielleicht kommt bald sogar noch ein weiteres Puzzlestück dazu. Mit Menschen im Autismus Spektrum habe ich zumindest sehr viele Überschneidungen und Vieles, was ich der Hochsensibilität zugeordnet habe, könnte auch hier seinen Ursprung haben. Denn ADHS und Autismus haben symptomatisch recht viele Überlappungen.

 

Es gibt einige Situationen, auf die ich mich etwas vorbereiten muss, aber ich bin froh, endlich zu wissen woran es liegt. Mittlerweile habe ich Strategien gefunden, die mir helfen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals sagen werde, aber über viele Dinge habe ich tatsächlich über das so umstrittene Instagram erfahren. Dort gibt es viele Accounts, die aktuelle und hilfreiche Informationen teilen und viele neurodivergente Menschen, die miteinander in den Austausch gehen und aufklären. Hierbei gab es immer wieder Situationen, in denen ich sofort gedacht habe: Das ist bei mir ganz genauso! Ich habe mich wirklich in vielen Beiträgen wiedergesehen, weshalb ich letztendlich auch den Mut aufbringen konnte, ein zweites Mal eine ADHS-Diagnostik anzustreben.

 

Nur weil ich sensibel für Reize bin, heißt das übrigens nicht, dass ich nur noch zuhause sitze und versuche Stress zu vermeiden. Genauso wenig laufe ich nur noch mit Noise Cancelling Kopfhörern durch die Gegend. Ich würde aber auch nicht mehr irgendwo hinziehen, wo es extrem laut ist. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie ich früher in Hamburg überlebt habe. Auch deswegen wohne ich gerne in Kiel: hier ist alles etwas leiser und langsamer.

 

Selbstständigkeit als Ordnungscoach mit ADHS

 

Besonders spannend für mich war die Erkenntnis, dass vieles, was ich im Alltag mache, Kompensationsstrategien sind. Und vermutlich bin ich durch Überkompensation in der Lage gewesen, mein Chaos so zu ordnen, dass ich dieses Wissen jetzt an andere vermitteln kann. Als Ordnungsexpertin kann ich mein Interesse am Minimalismus ausleben. Schon seit Jahren organisiere ich Events, auf denen Menschen ausgemistete Dinge, wie Kleidungsstücke, miteinander tauschen können. Außerdem habe ich über meine Arbeit im Glückslokal immer wieder Leute getroffen, die gerne Gegenstände aussortieren wollten und denen ich durch mein Wissen über eine minimalistische Lebensweise verschiedene Tipps geben konnte. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht und irgendwann habe ich einfach gemerkt, dass ich das richtig gut kann.

 

Einige Zeit nach der Diagnose reifte der Gedanke mit meinem Talent irgendwas zu machen. Daher habe ich zunächst an einem Workshop für Gründungsideen teilgenommen. Während des »yooweedoo Ideensprints« habe ich über eine Idee nachgedacht, die ich schon früher hatte: die Gründung eines Umsonstladens, der Leerstand in der Innenstadt nutzt, um aussortierte Gegenstände zu verschenken. Relativ schnell habe ich aber gemerkt, dass die Umsetzung wohl ziemlich viel Aufwand bedeuten würde und ich dadurch wieder Gefahr laufen könnte, mich zu übernehmen. Und dann war ich zum Glück so achtsam mir selbst gegenüber, dass ich es nicht gemacht habe. Stattdessen habe ich mich aber dazu entschieden, tatsächlich in den Bereich der professionellen Beratung einzusteigen und Ordnungscoach zu werden. Für die aussortierten Gegenstände nutze ich bestehende Strukturen, wie zum Beispiel ein Second Hand Kaufhaus bei uns in Kiel namens ECHT.GUT.

 

Um dann wirklich nach Außen als kompetente Ordnungsexpertin aufzutreten, habe ich mich als Beraterin zertifizieren lassen und seitdem übe ich meine Leidenschaft als Beruf aus.

 

Sichtbarkeit und Aufklärungsarbeit

 

Als spätdiagnostizierte Frau habe ich erlebt, dass noch viel Aufklärungsarbeit notwendig ist. Erwachsene Menschen mit ADHS und insbesondere Frauen sowie nicht binäre Menschen, wurden jahrelang von der Wissenschaft ignoriert. Psychische Störungen und Erkrankungen werden nach wie vor stigmatisiert und Menschen, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen, haben es weiterhin sehr schwer. Daher ist es mir wichtig, über ADHS im Erwachsenenalter zu berichten, sichtbar zu sein und Klischees aufzubrechen. Und dass ich selbst noch jeden Tag viel über mich und ADHS lerne. Momentan recherchiere ich gerade dazu, wie sich mein Zyklus auf meine Symptome auswirkt und wie meine PMDS Beschwerden damit in Verbindung stehen. Denn auch von PMDS (Prämenstruelle dysphorische Störung) habe ich sehr spät in meinem Leben erfahren, obwohl ich davon seit Jahren betroffen bin. Und auch, wenn ich jetzt weiß, was mit mir zyklusbedingt los ist, ist es kaum möglich Ärzt*innen zu finden, die sich mit PMDS und ADHS auskennen, obwohl die Kombination gar nicht so selten ist. 

Ich finde übrigens auch, dass meine ADHS viele positiven Seiten hat, beispielsweise, dass ich sehr kreativ bin und an viele Dinge gleichzeitig denken kann. Ich weiß einfach, dass ich ein sehr kreatives, lösungsorientiertes Gehirn habe und dadurch irgendwie immer eine Idee. Diese Fähigkeit kann ich als Coach natürlich sehr gut nutzen.

Mittlerweile gehe ich auch ganz offen damit um, dass ich ADHS habe und schon zwei Mal von einem Burnout betroffen war. Ich finde, dass bezüglich dieser Thematik noch wesentlich mehr Sichtbarkeit notwendig ist und dass es keinesfalls ein Tabuthema und auch kein verharmlosendes Thema sein sollte, was überwiegend leider noch so ist. Und um das zu ändern, bin ich der Meinung, dass es starke, selbstbewusste Personen braucht (am besten natürlich welche, die durch eigene Betroffenheit genau wissen, wovon sie sprechen), um die Masse eben für etwas zu sensibilisieren, was merkwürdigerweise gleichermaßen Handicap als auch Motivator und »Förderer« sein kann. Und das ist auch der Grund warum ich bei dem Projekt »frauenportraits« mitmachen wollte. Lange Zeit war ich mir nicht sicher, ob diese Offenheit eine gute Idee ist. Dies liegt daran, dass es leider immer noch zu viele Menschen gibt, die Vorurteile haben und Intoleranzen hegen. Einige von ihnen sind sogar der Meinung, es gäbe gar kein ADHS und Burnout wäre doch nur ein »Trend« – als wäre das irgendetwas Cooles oder nur eine Ausrede. Auch zum Thema Hochsensibilität lese ich oft sehr negative Meinungen. Letztendlich habe ich mich dann aber entschlossen, damit offen umzugehen und mein Sein auch auf meiner Homepage zu publizieren.

 

Zudem habe ich einen Instagram Account eröffnet, auf dem ich regelmäßig Tipps für Personen mit ADHS gebe, aber auch meine persönlichen Erfahrungen teile. Dazu zählt zum Beispiel, dass ich empfehle, immer auch genug Zeit für Erholung einzuplanen. Außerdem haben mir persönlich beispielsweise Yoga, Achtsamkeit und Meditation geholfen, besser mit dem ADHS zu leben.

Momentan könnte ich gar nicht beantworten, was ADHS für mich wirklich ist: eine psychische Störung? Eine Krankheit? Eine Behinderung? Oder ist es doch »nur« eine neurologische Variante? Der Ansatz der Neurodivergenz, also dem »Unter-einen-Nenner-bringen« von neurotypisch abweichendem Verhalten, wie z.B. ADHS oder Autismus, spricht mich auf jeden Fall an. Hier wird sich in den nächsten Jahren bestimmt noch viel verändern, neue Erkenntnisse werden hinzukommen und auch mein Wissen ändert sich diesbezüglich jeden Tag. Es bleibt also definitiv spannend – sowohl bezüglich des wissenschaftlichen Aspekts, als auch im Hinblick auf meine eigene Persönlichkeitsentwicklung.

 

Mittlerweile wird zwar medial viel mehr über mentale Gesundheit und psychische Krankheiten berichtet, aber es ist trotzdem noch viel mehr Aufklärungsarbeit notwendig, um auch Akzeptanz zu fördern und der Stigmatisierung entgegenzuwirken. Endlich zu verstehen, warum ich mein ganzes Leben das Gefühl hatte „anders“ zu sein, hat mir auf jeden Fall sehr geholfen, mich selbst anzunehmen. Das würde ich anderen Menschen, denen es vielleicht auch so geht, ebenfalls wünschen. Ich hoffe, dass man irgendwann in unserer Gesellschaft keine Angst mehr haben muss, zu erwähnen, dass man ADHS hat und wir als Gesellschaft akzeptieren, dass wir alle unterschiedlich sind und dass das auch gut so ist!